Diakon Martin Wirth hinterfragt „Umgang mit der eigenen Begrenztheit“
Unter dem Titel „Halt! Hier Grenze – Beobachtungen eines blinden Theologen und Biologen“ ist das neueste Buch von Diakon Martin Wirth erschienen.
Er hinterfragt darin den „Umgang mit der eigenen Begrenztheit" sowie die „Grenzen auf dem eigenen Lebensweg". Mit dem stark autobiographisch geprägten Werk will Wirth deutlich machen, „an welchen Grenzen es sich zu kämpfen lohnt und an welchen nicht".
Einleitend verweist der 48-jährige Diakon auf zwei grundlegende Einsichten: „Als Mensch mit einer Schwerbehinderung stelle ich eine Normvariante menschlichen Seins mit einem besonderen Zugang zum Leben dar. Und: Meine Behinderung ist Geschenk, theologisch ausgedrückt: Gnade."
Für den Herbst 2020 plant Diakon Wirth eine Lesung in Göttingen.
- Martin Wirth
Halt! Hier Grenze
Beobachtungen eines blinden Theologen und Biologen
129 Seiten, 9,90 Euro
ISBN 978-3-429-05506-6
Leseprobe
(auch als PDF-Datei mit Cover und Inhaltsverzeichnis verfügbar)
Warum ich über Grenzen schreibe
Grenzen bestimmen unser Leben. Grenzen machen deutlich, dass dort etwas aufhört, zu Ende geht und dass dahinter etwas Neues, etwas Anderes anfängt. Auf einer allgemeinen, übergeordneten Ebene lässt sich sogar behaupten: Leben kann sich ohne Grenzen gar nicht erst ereignen. Denn ohne Grenzen gibt es keine Körper und Räume. Grenzen schaffen ein Innen und ein Außen, ein Hier und ein Dort, ein Richtig und ein Falsch. Grenzen lassen Strukturen erkennen und stecken Räume ab. Wir haben es mit Kulturgrenzen zu tun, mit Grenzen zwischen Religionen, Konfessionen, Weltanschauungen und Parteien, mit Milieu- und Einkommensgrenzen. Straßen, Eisenbahntrassen und Kanäle verbinden Regionen und Orte, zugleich stellen sie für Mensch und Tier gefährliche Grenzen dar. Geologische Grenzen finden wir vor, politische Grenzen wurden und werden von Menschen gezogen. So manch gezogene Grenze ist sinnvoll und gut begründet. Dann bietet sie Schutz und Orientierung. Andere sind willkürlich gesetzt und lösen bei Menschen Verständnislosigkeit, Ärger oder gar Entsetzen aus. Es gibt Grenzen, die strikt und konsequent einzuhalten sind, und Grenzen, die überwunden werden müssen. Grenzen werden befestigt und verteidigt, und Grenzen werden niedergerissen. Persönliche Grenzen sind zu achten, damit es nicht zu Grenzüberschreitungen und Übergriffen kommt. Grenzen werden umgangen. Menschen grenzen aus und werden ausgegrenzt. Bestimmte Situationen empfinden wir als grenzwertig. Manche Menschen verzweifeln und scheitern an Grenzen, verstummen dann und geben auf. Andere reiben sich an Grenzen, stellen sie in Frage und gehen am Ende gereift und gestärkt aus diesem Prozess hervor. Menschen müssen lernen, mit begrenzten Möglichkeiten und Ressourcen zu leben und mit begrenzter Kraft: Manch gegebene und unabänderbare Grenze gilt es zu akzeptieren, um nicht an ihr zu verzweifeln. Grenzen prägen und formen das Leben, sie fordern den Menschen heraus. Sie zeigen, wozu der Mensch in der Lage ist, was er vermag, wofür er steht und sich einsetzt.
Sozialwissenschaftlichen Beobachtungen folgend, müssen innerhalb von Gesellschaften und Gemeinschaften Grenzen, also Regeln und Gesetze, von Zeit zu Zeit diskutiert und neu verhandelt werden, damit sie den Veränderungen und Entwicklungen gerecht werden. Dabei gilt es, zwischen den Positionen einer offenen und einer geschlossenen Gesellschaft zu vermitteln. In Reinform ist keiner dieser beiden Gesellschaftsentwürfe überlebensfähig. Während Kosmopoliten für offene Grenzen und kulturelle Vielfalt eintreten, stehen Traditionale für eine klare Abgrenzung.
Für mich sind Grenzen seit frühester Kindheit sehr bewusste Wegbegleiter: Im Kindergartenalter wurde bei mir eine erblich bedingte Augenkrankheit, Retinitis pigmentosa (RP), festgestellt, die sich in einer zunehmenden Vernarbung der Netzhaut zeigt. Das Sichtfeld wird dabei immer kleiner und kann schließlich ganz verschwinden, in meinem Fall mit 28 Jahren. Ereignisse in der Kindheit prägen die Entwicklung eines Menschen bekanntlich nachhaltig und so rief vor allem diese erblich bedingte Grenze meines Körpers in mir Fragen hervor, die mich mein Leben lang – ob im familiären, seelsorgerischen oder in einem anderen Kontext – begleitet haben:
- Wie gehe ich mit meiner Begrenztheit um, also mit dem, wie ich mich vorfinde, was mir gegeben ist und wie ich geworden bin?
- Wie gehe ich mit den Grenzen um, auf die ich auf meinem Lebensweg treffe?
- Wie finde ich heraus, an welchen Grenzen es sich zu kämpfen lohnt, wo ich also Kraft, Gedanken, Ideen, Kreativität, Geld- und Sachmittel sowie Lebenszeit einsetzen möchte? Sei es, um eine Grenze zu erhalten und zu schützen, oder um sie zu durchbrechen und einzureißen.
- An welchen Grenzen verhalte ich mich besser passiv und ziehe mich zurück? Mit welchen Begrenzungen und Grenzen sollte ich mich abfinden? Welche kann ich sogar lieben lernen?
Meine Behinderung ist an sich nicht schön, sie macht meinen Alltag herausfordernd und hat mir so manches Mal schon ziemlich große Probleme bereitet. Doch habe ich in meinem Leben zwei Dinge zu verstehen gelernt:
Als Mensch mit einer Schwerbehinderung stelle ich eine Normvariante menschlichen Seins mit einem besonderen Zugang zum Leben dar.
Und:
Meine Behinderung ist Geschenk, theologisch ausgedrückt: Gnade.
Dieses Buch trägt stark autobiographische Züge: Denn Erfahrungen stellen ja eine Quelle neuer Einsichten dar. So hoffe ich, dass der Leser oder die Leserin dieses Buches durch meine Schilderung und Reflexion eigener Erfahrungen einen kleinen Einblick in die besondere Perspektive eines sehbehinderten und später blinden Menschen erhält und sich ihm oder ihr Möglichkeiten eröffnen, wie man mit eigenen und fremden Grenzen richtig umgeht.
Nicht nur meine eigenen Erfahrungen, sondern auch die in den letzten Jahren bekannt gewordenen Fälle massivster Grenzverletzungen und Grenzüberschreitungen in der katholischen Kirche haben mich dazu bewogen, dieses Buch zu schreiben. Das Ausmaß und die Tiefe des zwischenmenschlichen wie institutionellen Versagens haben mich zutiefst erschüttert. Von sexuellem Missbrauch Betroffene müssen die Gewissheit haben, dass ihre Täter und Täterinnen strafrechtlich verfolgt werden. Als Diakon ist mir besonders wichtig, hier Stellung zu beziehen. Es benötigt große Sensibilität, um die oft stillen Hilferufe Betroffener wahrnehmen zu können. Hierfür sind die eingeführten Präventionsschulungen für alle hauptamtlichen, hauptberuflichen und freiwilligen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sowie die Erstellung von Schutzkonzepten für unsere Pfarreien und kirchlichen Einrichtungen absolut notwendige, unverzichtbare Maßnahmen.
Die Forschung zur Prävention sexuellen Missbrauchs hat gezeigt: Sich selbst immer besser kennenzulernen und zu verstehen, eigene Gefühle zuzulassen und in Worte zu fassen, persönliche Grenzen und Begrenztheiten wahrzunehmen und über selbst erlebte Grenzerfahrungen und Grenzüberschreitungen mit anderen zu sprechen, sind wichtige Schritte auf einem Weg, der dazu führt, die eigenen Grenzen und die Grenzen seiner Mitmenschen achten und schützen zu können. Auch dazu möchte ich mit diesem Buch einen Beitrag leisten.